Veränderung von unten

Freitag,

Veränderung von unten, von Ruedi Winkler

Gesellschaftliche Veränderungen geschehen auf unterschiedliche Weisen. Nicht immer geschieht das Wichtigste dort, wo der Lärm am grössten ist. Unauffällige Entwicklungen können wieder ebenso unscheinbar verebben, wie sie entstanden sind – oder auch nicht.

Zwei Netzwerke – gemeinsame Stossrichtung
In Zürich wurde Anfang November der Verein Netzwerk Caring Communities Schweiz gegründet, das Netzwerk selbst besteht seit 2017 und ist seither stark gewachsen. Und es ist Teil eines Netzwerks der Länder Deutschland, Österreich, Schweiz, des D‐A‐CH‐Netzwerks Caring Communities. Ein gleichartiges Netzwerk gibt es auch für die Care-Initiativen Deutschland, Österreich, Schweiz.

Zu beiden Themen ist in diesem Jahr je ein Buch erschienen, «Care schafft Community – Community braucht Care»1) mit einer Reihe von Aufsätzen, was Caring Communities sind, was sie wollen und über ihre Bedeutung. Im Buch «Wirtschaft neu ausrichten»2) setzen sich verschiedene Autorinnen hauptsächlich mit der Frage auseinander, wie wir zu einer carezentrierten Wirtschaft gelangen, oder wie eine Autorin sagt, wie es gelingen kann, die Wirtschaft vom Kopf auf die Füsse zu stellen.

Was ist eine Caring Community?
Caring Communities sind Organisationen, in denen sich Menschen zusammenschliessen, die für ein ganz bestimmtes Problem in ihrem direkten Lebensbereich eine Lösung finden wollen. Charakteristisch für sie ist, dass sie nicht «man sollte», «me sött» oder «die sollen doch endlich mal» sagen, sondern sie packen selber an, suchen Wege und Möglichkeiten, das Problem zu lösen. Entsprechend vielfältig sind denn auch die Organisationen, die sich zu den Caring Communities zählen. Vom Kinderspielplatz bis zum Lokalradio, vom Bio-Gemeinschaftsgarten über den Quartiertreffpunkt bis zum Treffpunkt für alleinerziehende
Mütter oder für ältere Menschen; Treffpunkte und Räume, die allen zur Verfügung stehen, Begrünen und Beleben des öffentlichen Raums usw. Im  ‹Corriere del Ticino› sagte es Marcello Martinoni, Koordinator des Netzwerks Caring Communities im Kanton Tessin, so: Caring Communities würden «kleine Ideen umsetzen, die zu grossen Ergebnissen in der Gesellschaft führen». Erneuerung von unten. Allen ist gemeinsam, dass sie von den Menschen im Quartier, der Gemeinde oder der Region aufgebaut und betrieben werden. Mit wenig Hierarchie, stark auf das gemeinschaftliche Tun ausgerichtet und stark geprägt von Frauen, nicht nur beim Ausführen, sondern genauso beim Initiieren, Planen und Gestalten.

Was bei Veranstaltungen mit Vertreterinnen und Vertretern von Caring Communities auffällt, ist die Power, die Engagiertheit und die gute Stimmung. Es kommt zum Ausdruck, da treffen sich Menschen, die handeln und etwas bewegen wollen.

Care-Arbeit ist das Fundament
Care-Arbeit umfasst Betreuungs-, Pflegeund Hausarbeit für Kinder und Erwachsene, bezahlt und unbezahlt, d.h. alles, was nötig ist, damit Gesellschaft und Wirtschaft überhaupt funktionieren können. Die ökonomische Bedeutung der unbezahlten Familienund Hausarbeit ist gross. Gemäss der Fachhochschule Graubünden umfasste sie in der Schweiz schon 2016 9,2 Milliarden Stunden unbezahlt. Das ist mehr, als für bezahlte Arbeit aufgewendet wurde (7,9 Milliarden Stunden). Der totale Wert der unbezahlten Arbeit in der Schweiz beläuft sich auf 404 Milliarden Schweizer Franken, wovon rund 246 Milliarden Schweizer Franken (61 Prozent) von Frauen geleistet werden. Im Bruttoinlandprodukt wird sie jedoch gar nicht berücksichtigt.

Diesen Sommer fand in Herrsching bei München ein Seminar für Vertreter:innen der Care-Initiativen Deutschland, Österreich, Schweiz statt. Im Mittelpunkt stand die Erscheinung ihres Buches «Wirtschaft neu ausrichten» und die Planung der nächsten Schwerpunkte. Wie der Titel des Buches sagt, ist das Ziel klar und die Herausgeberinnen lassen keine Zweifel offen, worum es geht. In der Einleitung zum Buch schreiben sie, es «braucht nicht nur Sichtbarkeit, Anerkennung und Honorierung von Care-Tätigkeiten, sondern eine Neuausrichtung allen Wirtschaftens». Entsprechend waren
am Seminar die Pläne für die weiteren Aktivitäten auf eine Neupositionierung der Care-Arbeit ausgerichtet. Und mehr noch, die Care-Arbeit ist die Grundlage, ohne die weder die Wirtschaft noch die Gesellschaft existieren kann. Da ist es nur logisch, dass die Werte und Regeln der Care-Arbeit auch für die Wirtschaft gelten sollten.

Grundlegender Systemfehler
Die bekannte amerikanische Soziologin Riane Eisler benennt in ihrem Buch «Die verkannten Grundlagen der Ökonomie» (3) den grundlegenden Systemfehler. Das Problem sieht Eisler in unserem «dominanzgeprägten Wirtschaftsund Gesellschaftssystem». Solche Systeme seien geprägt von vier Elementen: Autoritäre auf Kontrolle gestützte Hierarchien, hohes Mass an Missbrauch und Gewalt, Unterordnung der Frauen unter die Männer und Überzeugung, dass diese Dominanz «als unausweichlich, ja sogar als moralisch geboten» gerechtfertigt sei. Sie stellt als Kern des Übels die fehlende Fürsorge fest. Oder kurz gesagt: Die westliche Wirtschaft beruht in Theorie und Praxis auf dem Prinzip der Konkurrenz, der Stärkere verdrängt den Schwächeren. Diesem Prinzip fallen offensichtlich nicht nur das Klima und die soziale Gerechtigkeit zum Opfer, immer deutlicher auch unsere Demokratien, für die dieses Prinzip längerfristig tödlich ist.

Aus der Sicht Eislers haben die «zunehmenden Probleme von Individuen, Gesellschaft und der natürlichen Umwelt, also unserer Mitwelt, eine gemeinsame Ursache: Einen Mangel an Fürsorge bzw. Care». Nach ihr blenden die herkömmlichen Wirtschaftsmodelle in «befremdlicher Art und Weise einige der grundlegenden Voraussetzungen der menschlichen Existenz – allen voran, die essenzielle Bedeutung der Fürsorge und der CareArbeit für jegliche ökonomische Aktivität» aus.

Die Mitglieder der Netzwerke Caring Communities und Caring-Initiativen engagieren sich konkret und direkt dafür, dass Fürsorge bzw. Care in unserer Gesellschaft jenen Stellenwert erhält, der ihr gebührt. Sie engagieren sich dort, wo sie direkt etwas beeinflussen können. Sie setzen dort an, wo sie direkten Einfluss haben und ihre Ideen umsetzen können. Und sind überzeugt, dass sich so Marcello Martinonis Erwartung erfüllen wird.

Ruedi Winkler

1) Care schafft Community – Community braucht Care. Robert Sempach, Christoph Steinebach, Peter Zängl. Hrsg. Springer Verlag
2) Wirtschaft neu ausrichten. Uta Meier-Gräwe, Ina Praetorius, Feline Tecklenburg. Hrsg. Barbara Budrich Verlag.
3) Riane Eisler: Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Büchner Verlag.

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